Münchens erster Multifunktionsraum in einer Schule lässt sich innerhalb weniger Minuten für ganz verschiedene Sportarten umbauen. Das Konzept soll bald auch in anderen Schulen umgesetzt werden.
Von Ricarda Richter
Auf die Slackline ist Jürgen Triftshäuser besonders stolz. Das straff gespannte Gurtband in Innenräumen aufzuhängen, sei statisch unmöglich, wurde ihm im Vorfeld gesagt. Jetzt balancieren die Schülerinnen Hannah und Mia zu zweit darauf von Wand zu Wand. “Wir haben nicht nur eine Slackline, sondern man kann sie auch mit einem Griff aushängen und etwas Anderes anbauen”, sagt Triftshäuser und deutet auf den schweren Karabinerhaken.
Triftshäuser ist Sportwissenschaftler im Referat für Bildung und Sport und der Initiator des neuen Multifunktionsraums an der Carl-von-Linde-Realschule, der am Mittwoch offiziell vorgestellt wurde. Früher standen hier Kraftgeräte, dann Tischtennisplatten, mit der Zeit verkam er zur Abstellkammer. Im Mai 2019 entschied sich die Schulleitung, ihn wieder aktiv nutzen zu wollen und entschied sich für das neue Konzept: einen Raum, dessen komplette Ausstattung auf einem Wandschienensystem beruht und innerhalb weniger Minuten beliebig verändert werden kann.
Manche Wandplatten sind Spiegel für Tanzstunden, andere mit roten und blauen Elementen zum Bouldern besetzt. Zwei Jungen klettern über ein von der Decke herabhängendes Netz, eine Reckstange und einen mobilen Kasten. Höchstens 15 Schüler dürfen sich hier gleichzeitig austoben. Gleich nebenan liegt die Sporthalle. Doch nicht nur für den Unterricht, auch in den Pausen soll das Angebot unter Aufsicht genutzt werden können.
210 000 Euro hat die Ausstattung des 54 Quadratmeter großen Raumes gekostet. Eigentlich stehen der Carl-von-Linde-Realschule nur 160 000 Euro im Jahr zur Verfügung. Ein Problem war das nicht. “Die Zeiten sind vorbei, in denen geschimpft wurde: Das hat jetzt aber einen Euro mehr gekostet”, sagt Detlev Langer aus dem Baureferat. “Das wird flexibel ausgeglichen.”
Das Geld stammt aus einem Sonderbudget der Schulbauoffensive. Die Stadt hat seit 2014 in bisher drei Schulbauprogrammen etwa 6,5 Milliarden Euro in Neubauten und Sanierungen investiert. Zusätzlich gibt es einen besonderen Etat in Höhe von 40 Millionen Euro jährlich für Reparatur-, Aufwertungs- und Schönheitsmaßnahmen, über den die einzelnen Schulen selbst entscheiden dürfen. Neben neuen Bodenbelägen und Anstrichen ist auch die Anschaffung von Blumen, Klettergerüsten, Hochbeeten oder Sonnenschutz möglich. Und inzwischen gehört auch der wandelbare Multifunktionsraum zum Repertoire.
“Seit 20 Jahren denke ich über solche Räume nach”, sagt Triftshäuser. Zwei Vorgaben habe es gegeben: die Räume müssen ganztätig nutzbar und vor allem pädagogisch sinnvoll sein. “Wenn wir normierte Geräte für unnormierte Kinder haben, dann können wir nicht jedem oder jeder gerecht werden.” Hier aber seien die Aufbauten so zu gestalten, dass sich jedes Kind seine Herausforderung und Belastung selbst bauen könne. Das sei auch für die psychologische Entwicklung der beste Ansatz.
“Umbau”, ruft Triftshäuser. Hannah und Mia klinken die Slackline aus, eine Rutsche, die Reckstange, das Netz und der Kasten werden herausgetragen. In weniger als drei Minuten ist alles verschwunden. Herein kommen die nächsten Schüler, hängen ein Trapez ein, befestigen neue Geräte an den Wandschienen. Reinhängen, einen einfachen Sicherungsgriff drehen, fertig. Kinderleicht, ohne Werkzeug. Dabei halten die Schwerlastschienen bis zu sieben Tonnen. “Ich finde es echt super zu turnen, mich zu bewegen”, sagt Enisa, die sich am sogenannten Battle Rope abarbeitet.
Immer mehr Kinder in Deutschland leiden an Übergewicht, oft schaffen es Jungen und Mädchen in Kindertagesstätten nicht mehr, auf einem Brett zu balancieren. Gerade in einer Großstadt wie München ist es schwer, den Kindern genügend Bewegungsmöglichkeiten zu bieten. Dabei gibt es an vielen Schulen ungenutzte Räume. Künftig werden alle Neubauten unmittelbar mit einem Multifunktionsraum ausgestattet, auch in den Bestandsschulen sollen sie nach und nach Standard werden.
Jürgen Triftshäuser geht es jetzt vor allem darum, einen Wettbewerb unter den Herstellern zu initiieren. Denn von der Stange gibt es die Schienen und Wandelemente noch nicht. “All das hier sind Prototypen. Für die Umsetzung haben wir uns an den Weltmarktführer für Befestigungstechnik gewandt. Wir mussten sie für unsere Idee begeistern und überzeugen, sich darauf einzulassen.” Doch der Markt sei groß. Denn nicht nur Schulen und Kitas könnten Abnehmer sein. Auch für Senioren sei diese Form des Sportraums ideal.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, das Geld stamme aus dem ersten Schulbauprogramm der Stadt, es stammt aber aus einem Sonderbudget.